Interview Klaus Amann über Christine Lavant: "Künstlerisches Genie ist und bleibt ein Rätsel. Sie ist eines."

Herr Amann, Sie sind ein sehr renommierter Literaturwissenschaftler und langjähriger Leiter des Robert-Musil-Instituts und des Kärntner Literaturarchivs. Sie haben sich auch sehr verdient gemacht als Herausgeber von Christine Lavants Literatur. Können Sie kurz ansprechen, was denn das Herausragende und Einzigartige an ihren Texten ist? Was macht sie heute noch so aktuell?
 

Christine Lavant, die aus gesundheitlichen Gründen nicht einmal die dreiklassige Volksschule abschließen konnte, hat sowohl in der Lyrik wie auch in der Prosa zu einer völlig eigenständigen, unverwechselbaren Sprache und Darstellung gefunden, die sie in eine Reihe stellen mit Ingeborg Bachmann, Friederike Mayröcker und Ilse Aichinger, also mit den ganz Großen im vergangenen Jahrhundert. Künstlerisches Genie ist und bleibt ein Rätsel. Sie ist eines.

Aus Anlass des 50. Todestages haben Sie einen umfangreichen Band mit Texten von und über die Kärntner Dichterin veröffentlicht. Der Wallstein-Verlag nennt ihre Publikation ein "biographisches Porträt". Was dürfen wir uns darunter vorstellen?

Zwei Drittel der Texte des Buches stammen von Christine Lavant selbst und sind bisher unveröffentlicht. Briefe an Freundinnen, Freunde und Förderer, vor allem auch an ihren langjährigen Geliebten, den Maler Werner Berg. Diese Briefe sind eingepasst in ein Mosaik aus Texten und Dokumenten, Zeitungsberichten, Rezensionen, ihre Krankenakte aus dem Klagenfurter ‚Irrenhaus‘, Erinnerungen und Würdigungen durch Kolleginnen und Kollegen usw. Verbunden und verschränkt werden diese ‚Funde‘ durch detaillierte Kommentare von mir. Es sind z.T. auch Früchte und Ergebnisse der langjährigen Arbeit an der 4-bändigen Lavant-Werkausgabe (2014-2018).

Die Autorin hat in Kärnten in sehr ärmlichen Verhältnissen gelebt. Welche Rolle spielt denn dieses Milieu für ihre literarische Arbeit?

Da Christine Lavant – in der Lyrik wie in der Prosa – ganz überwiegend von ihren eigenen Erfahrungen ausgeht, spielt das bäuerlich-katholische Milieu und das der Arbeiter, Außenseiter und Ärmsten eine entscheidende Rolle in ihrem Schreiben Christine Lavant hat erst nach dem 2. Weltkrieg, als Dreißigjährige, mit dem Schreiben begonnen. „Ich habe eine Welt und diese Welt brennt! Und wo etwas brennt, da entsteht Kraft."

Welche Rolle spielen denn Kriegszeit und Neubeginn in ihrem Werk?

Sie war psychisch belastet und als ehemalige Psychiatrie-Patientin akut durch die NS-Euthanasie gefährdet, die in Kärnten besonders brutal durchgeführt wurde. Nahezu zehn Jahre, schreibt sie 1946, sei sie „zu einer völligen innerlichen Stummheit verurteilt“ gewesen. Aber sie hatte wohl auch Glück und einen gewissen Schutz dadurch, dass Verwandte und enge Freunde NSDAP-Mitglieder bzw. -Funktionäre waren. Aus der Kriegszeit ist keine Zeile von ihr überliefert. Nach dem Krieg, schreibt sie in einem Brief, brach es „heraus wie eine Sturzflut. Ich könnte überhaupt nichts mehr als schreiben …“.

Das Buch ermögliche völlig neue Einblicke in Christine Lavants Leben und Denken, bewirbt es der Verlag. Worauf bezieht sich das? Lässt sich das kurz beispielhaft ansprechen?

Christine Lavant ist zu Lebzeiten beinahe ausschließlich als Lyrikerin mit religiöser Schlagseite vermarktet worden – als erbarmungswürdige bäuerlich-katholische Leidensfrau mit Kopftuch, die mit Gott hadert. Ihr Kopftuch trug sie, um die temperaturempfindlichen Narben von einer zu hoch dosierten Röntgenbestrahlung am Hals zu schützen und zu verbergen, und ihr sogenanntes Hadern mit Gott ist eine verdeckte Liebesklage, die an einen sehr irdischen Adressaten gerichtet ist. Ihre Festlegung auf die religiöse Lyrikerin hat überdies den Blick auf die eminente Erzählerin verstellt, die nicht nur mit dem ‚Wechselbälgchen‘ oder den ‚Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus‘ zu den ganz Großen zählt. Im Buch ist auch erstmals die für Christine Lavant wichtigste (und vor allem ihre Lyrik entscheidend prägende) Liebesbeziehung mit dem Maler Werner Berg umfassend dokumentiert wird. Die Inhaber der Rechte haben zum ersten Mal einer Veröffentlichung aus dem Liebesbriefwechsel zugestimmt.

Christine Lavant gehörte keiner literarischen Vereinigung an. Trotzdem sind in den 1950er Jahre ihre Gedichtbände erschienen und sie wurde zur gefeierten Lyrikerin. Thomas Bernhard hat ihre Gedichte in den 1980er Jahren sogar bei Suhrkamp herausgebracht. Hat sich da die große Qualität ihrer Arbeit einfach durchsetzen können?

Christine Lavants Erfolg und große Anerkennung als Lyrikerin in den 1950er und 1960er Jahren waren in Teilen sicherlich ein Missverständnis und eine zeitbedingte Einengung auf das Katholische. (Noch die sehr erfolgreiche Auswahl ihrer Gedichte, die Thomas Bernhard 1987 bei Suhrkamp herausbrachte, leidet unter diesem einschränkenden Blick.) Ihre Prosa wurde von ihrem damaligen Salzburger Verlag geringgeschätzt und in ihrer Bedeutung nicht erkannt. So sind von ihrem umfangreichen Werk, das in nur zehn Jahren zwischen 1946 und 1956, entstanden ist, zu ihren Lebzeiten, in der Lyrik wie in der Prosa, nur etwa ein Drittel veröffentlicht worden. Sie hat zu Lebzeiten erstaunlich schnell und stetig Förderungen und Preise durch Land und Bund erhalten, hatte auch etliche beamtete Unterstützer, sie hat also keine Not gelitten, doch sie hat, auch auf Grund ihrer körperlichen Beeinträchtigungen, sich nach der Trennung von Werner Berg (1955) immer mehr aus dem Literaturbetrieb zurückgezogen. Einige Jahrzehnte nach ihrem Tod war ihr Name wohl nur noch in Fachkreisen bekannt. Die vierbändige Werkausgabe in einem großen deutschen Verlag, die zu mehr als der Hälfte zu Lebzeiten unpublizierte Texte enthält, hat sie ins literarische Leben zurückgeholt.

Klaus Amann. "Ich bin maßlos in allem" Christine Lavant-Biographisches. Wallstein Verlag, 2023